Gebt auf unsere Kinder acht!

Hauptschüler*innen sind während der Schulschließungen besonders gefährdet

Was passiert mit den Schüler*innen von Hauptschulen, wenn sie den ganzen Tag zu Hause sind und nur wenig Möglichkeiten haben, sich draußen zu bewegen? Und wie können Lehrkräfte ihnen helfen?
Gebt auf unsere Kinder acht!

Foto: Rike/photocase.de

Durch die – wichtigen und richtigen – Schulschließungen geht den Schüler*innen ein großer Teil ihrer Tagesstruktur verloren. Es fehlen Orientierungspunkte und außerfamiliäre soziale Kontakte. Normalerweise treffen die Schüler*innen in der Schule ihre Freund*innen. Die Schule ist für sie ein sicherer Ort. Eltern können während dieser Zeit ihren Verpflichtungen nachgehen. Dieser Abstand ist wichtig. Viele Familien unserer Schüler*innen leben in schwierigen sozialen Verhältnissen. Man darf nicht vergessen, dass die verbliebenen Hauptschulen zu 81 Prozent dem Standorttyp 4 und 5 zuzuordnen sind. Kinder und Jugendliche befinden sich hier in Situationen, die sie überfordern; den Eltern geht es ähnlich – sie werden von Existenzängsten geplagt. Als erste Maßnahme der Entschärfung der Situation wurde die Notbetreuung an Schulen für die Kinder ausgeweitet, die im Verfahren der Kindeswohlgefährdung (§8a SGB VIII) sind sowie für Familien, die soziale Hilfen beanspruchen (§27ff. SGB VIII).

Unterstützung zu Hause ist nicht selbstverständlich

So ist aus verschiedenen Gründen nicht damit zu rechnen, dass der Großteil der Elternschaft sich mit ihren Kindern an den Tisch setzt, zusammen Aufgaben für die Schule erledigt, ein Spiel spielt oder gemeinsam über diese außergewöhnliche Situation in Corona-Zeiten spricht. Unsere Kolleg*innen haben ihren Schüler*innen natürlich Aufgaben in der unterrichtsfreien Zeit gegeben. Aber ist es ihnen überhaupt möglich, sich in ihrer häuslichen Situation damit zu befassen? Haben sie selbst die Einsicht, dass dies wichtig ist? Wer motiviert sie, wenn es mal schwierig wird?

Wir gehen nicht davon aus, dass es in jedem Haushalt einen Computer und einen Drucker gibt. Wir gehen nicht davon aus, dass in jedem Haushalt den Schüler*innen ein eigener Schreibtisch zur Verfügung steht. Wir gehen nicht davon aus, dass unsere Schüler*innen zu Hause genug Ruhe haben, um sich mit den Aufgaben intensiv beschäftigen zu können.

Zentrale Prüfung in diesem Jahr aussetzen

Die seit vielen Jahren nachgewiesene soziale Benachteiligung im Bildungsbereich wird in diesen Zeiten auf die Spitze getrieben. Wir gehen davon aus, dass sich bis nach den Osterferien große Wissenslücken entwickelt haben, auch bei den älteren Schüler*innen, die eine Zentrale Abschlussprüfung schreiben sollen. Die Note aus den Zentralen Prüfungen in Klasse 10 (ZP10) wird zu 50 Prozent auf die Zeugnisnote in den Prüfungsfächern angerechnet. Aufgrund der Lücken wird das fatale Auswirkungen auf die Noten der Schüler*innen haben. Daher fordern wir, die ZP10 für die Hauptschule in diesem Jahr auszusetzen!

Psychosoziale Angebote schaffen

Wir machen uns auch Sorgen, dass es vermehrt zu häuslicher Gewalt kommt. Besonders herausfordernd sind die Zeiten für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen. Wie viel Platz, die Schüler*innen für sich und zum Arbeiten haben, beispielsweise in Form eines eigenen Zimmers, unterscheidet sich sehr stark. Aufgrund der ökonomischen Situation ihrer Eltern wohnen unsere Schüler*innen oft in sehr beengten Verhältnissen. Wie ergeht es ihnen in dieser beengten und nun auch isolierten Situation? Auch Jugendämter warnen vor häuslichen Übergriffen, die jetzt unentdeckt bleiben. Hier gilt es zu überlegen, welche Unterstützungsmöglichkeiten den Schüler*innen angeboten werden können. Wie können Schulpsycholog*innen helfen? Braucht es vielleicht eine spezielle Hotline für Kinder und Jugendliche in Zeiten der Corona-Epidemie? Wie können Schulsozialarbeiter*innen weiter ihre Dienste anbieten, ohne sich Risiken auszusetzen? Unabhängig von der Schulform sind solche Unterstützungsangebote in der jetzigen Situation wichtig.

Sozialen Ausnahmezustand auffangen

Trotz allem gibt es keine Alternative zu den vom Land NRW verordneten Schulschließungen. Wenn in der Schule der Unterricht wieder aufgenommen wird, werden wir viel zu tun haben. Unsere Schüler*innen werden sich freuen, in ihre Schulen zurückkehren zu dürfen. Eine unserer Aufgaben besteht dann darin, die Wissenslücken zu füllen (oder versäumte Inhalte nachzuholen). Die größere Herausforderung allerdings wird es sein, die gemachten Erfahrungen während dieses sozialen Ausnahmezustands aufzuarbeiten. Vor diesem Hintergrund muss zunächst die Beziehungsarbeit im Fokus des Unterrichts stehen. Prüfungsstress kann dann niemand gebrauchen und würde eher dazu führen, dass die Auswirkungen der Corona-Krise samt Schulschließungen nicht genügend aufgearbeitet werden könnten.

Heike Pauels, Fachgruppe Hauptschule der GEW NRW