2009 ging die Bundesregierung von rund 500 betroffenen Fällen in ganz Deutschland aus. Diese Einschätzung beruht auf den Angaben des Deutschen Studentenwerks. Auf welche Daten sich diese Schätzung bezieht, ist allerdings unklar. Diese Bewertung von Sorgearbeit der Studierenden gegenüber der älteren Generation führt dazu, dass pflegende Studierende zum einen als Gruppe kaum wahrgenommen werden. Zum anderen ist ihre Lebenslage im Unterschied zu ihren Mitstudierenden von Belastungen und Risiken gekennzeichnet.
Pflegende Studierende haben keinen Anspruch auf Verlängerung des BAföG
Studierende, die ihre Angehörigen pflegen, haben beim BAföG nur geringfügige bis keine Möglichkeiten, Ansprüche geltend zu machen. Die Pflege von Angehörigen ist nach §15 BAföG kein hinreichender Grund für die Verlängerung der Förderungsdauer. Noch heute wird ein Musterurteil des Bundesverwaltungsgerichts aus 1981 herangezogen, das die „Tatsache, dass die Klägerin während des Sommersemesters 1975 ihre schwerkranke Mutter gepflegt hat und an deren Stelle auch den Haushalt der Eltern hat besorgen müssen, (...) nicht als schwerwiegender Grund i.S. des §15 III Nr. 1 BAföG“ ansieht, um eine Verlängerung der BAföG-Unterstützung einzuräumen (Bundesverwaltungsgericht Aktenzeichen 5 C 113/79).
Da sich die Richtlinien einer Studienförderung in Form eines Stipendiums ebenfalls an den BAföG-Richtlinien orientieren, finden pflegende und sorgende Studierende auch hier keine Berücksichtigung. Und das in Zeiten, in denen der Gesetzgeber die Pflege und Sorge für die ältere Generation als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wissen will (vgl. z. B. § 45 SGB XI).
Vergleichbare Belastung: Studieren mit Kind oder mit pflegebedürftigen Angehörigen
Vergleichbar mit der Gruppe der Studierenden mit Kind muss für die pflegenden Studierenden eine erhöhte Belastung sowie Zeit- und Geldnot angenommen werden. Im Rahmen der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks werden die rund 123.000 Studierenden mit Kind dahingehend beschrieben, dass ihre Lebenslage ganz eigene Risiken beinhaltet: Anlass für den Sonderbericht waren lange Studienzeiten und hohe Abbrecher*innenquoten der Studierende sowie das Bestreben des Studentenwerks, Studium und Familie zu fördern. Ein Bericht des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) aus 2010 kommt zu ähnlichen Ergebnissen. „Wer sich um ein Kind kümmert, bricht sein Studium häufiger ab, studiert im Mittel länger und muss darüber hinaus nebenher öfter Geld verdienen als seine Kommilitonen und Kommilitoninnen ohne Kind (…). Nicht besser gestaltet sich die Situation derer, die parallel zum Studium einen pflegebedürftigen, etwa chronisch kranken oder behinderten Familienangehörigen zu versorgen haben“.
Pflegende Studierende werden viel zu wenig wahrgenommen
Man könnte hinzufügen, dass Studierende in der Lebenslage der Generativität, seien sie pflegend oder Eltern, auch den latenten Anrufungen und Erwartungen an ein Studium nicht entsprechen können. Sie können keine Auslandssemester oder Auslandspraktika absolvieren und an der Kultur der Hochschulen wie Fahrten, Exkursionen, Veranstaltungen außerhalb ihres Stundenplans können sie nur sehr bedingt teilnehmen. Verbunden mit diesen aufgezählten Benachteiligungen ist der deutliche Verdeckungszusammenhang der Lebenslage Generativität im Studium gerade in Bezug auf pflegende Studierende festzustellen. Ihre gesellschaftliche und sozialrechtliche Nichtwahrnehmung führt dazu, dass sie nicht als relevante Gruppe thematisiert werden können.
Die Pflegestatistik macht zu Pflegepersonen unter 45 Jahren keine differenzierten Angaben, sodass es weder möglich ist, Hinweise auf pflegende und sorgende Studierende zu erhalten, noch die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen an der häuslichen Pflege als Teil eines pflegerischen Familiennetzwerks einzuschätzen.
Gesetzliche Bestimmungen sind den meisten pflegenden Studierenden unklar
Eine Onlinebefragung im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) zeigte 2010, dass bei 11,65 Prozent der aktuellen Stipendiat*innen Angehörige Betreuung benötigten. Zum Zeitpunkt der Befragung pflegten von den Stipendiat*innen rund 3 Prozent aktiv. In der Summe waren das 69 Personen allein im Rahmen der HBS. Dass die geschätzte Anzahl der Bundesregierung somit als zu gering angesehen werden kann, ist ein logischer Schluss.
Gepflegt wurden in der Regel die Großeltern oder Eltern, wobei die Mehrheit (63,8 Prozent) der aktiv umsorgten Personen eine Pflegestufe besaß. Die Stipendiat*innen waren in den meisten Fällen in ein familiäres Pflegenetzwerk eingebunden. Im Zusammenhang mit der Pflegeübernahme wurden verschiedene psychische wie physische Auswirkungen der Pflege auf das Studium, aber auch finanzielle Sorgen als Belastungen angegeben. Auffällig war zudem, dass die befragten Studierenden kaum oder keine Kenntnisse über gesetzliche Bestimmungen oder bestehende Beratungsangebote der Hochschule aufwiesen.
Befragung von und Interviews mit pflegenden Student*innen
An der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld wurde die Forschung weitergeführt: Mit einem Online-Fragebogen richtete sich die Arbeitsgruppe 7 an die Studierenden. 537 Personen beteiligten sich. Allein hiervon gaben 328 Personen an, in ihrem Umfeld eine pflegebedürftige Person zu haben, 292 Personen waren selbst in die Pflege von Angehörigen eingebunden. Von den 292 Personen sind 101 gesetzliche Betreuer*innen, 30 sind Hauptpflegepersonen im Sinne der Pflegeversicherung und 71 Hauptansprechpartner*in für das hilfebedürftige Familienmitglied. Weitere 143 Personen gehören zum Pflegenetzwerk in der Familie.
Zunächst nur als Ergänzung zur Onlineumfrage wurden im Rahmen der HBS-Studie zehn problemzentrierte Interviews mit Pflegenden beziehungsweise Sorgearbeit leistenden avisiert. Es gab bei den Studierenden große Resonanz auf das Angebot, sodass aus über 60 potenziellen Interviewpartner*innen am Ende 17 Interviews entstanden.
Einzelinterviews gehen Lebenssituation Pflege und Studium auf den Grund
Entsprechend der Ausgangsfragestellung wurden bei den Interviews vor allem Belastungen und die sozialrechtliche Stellung der Studierenden mit Pflegeaufgaben erhoben. Das gestaltförmige Erzählen der pflegenden Studierenden über ihre Lebenssituation verwies aber sehr schnell auf viel tiefere Dimensionen der Lebenssituation Pflege und Studium.
Neben der sozialrechtlichen Stellung und den Belastungen durch die Vereinbarkeit von Studium und Pflege wurden sehr schnell Bindungen und Generativität, Entwicklungsaufgaben und insbesondere das sozialrechtliche und pflegerische Wissen als Dimensionen der Interviews deutlich. Vor allem hier wird die Hochschule auch als Ressource für die Gewinnung von reflexivem Wissen zur Bewältigung der Pflegesituation und der Vereinbarkeit von Studium und Pflege benötigt. Bei der Auswertung der qualitativen Interviews mittels interpretativer Sozialforschung konnten deshalb folgende Punkte herausgestellt werden:
Die generative Verbundenheit ist heute stärker
Die Tatsache, dass heute historisch vier Generationen in einer Zeit leben, lässt die Großelternbeziehung zur wichtigen Bindung werden. Die gemeinsame Zeit führt zu einer stärker werdenden generativen Verbundenheit, die sich auch sich in der Phase der Abschiedlichkeit zeigt. Pflege von Angehörigen wird als biografische Zäsur und einschneidende Erfahrung erlebt. Die eigene Handlungsfähigkeit bleibt durch bewusste Reflexion der Situation, Begrenzung des Pflegearrangements sowie durch Strategien der Selbstsorge und des Durchhaltens bestehen.
Insgesamt können die Abschiedlichkeit und die finale Pflege als eine neue Entwicklungsaufgabe gesehen werden, die so empirisch noch nicht beschrieben wurde. Wobei diese Entwicklung erst unter den Bedingungen des demografischen Wandels, also durch die gestiegene Lebenserwartung der Großelterngeneration sichtbar wird und dadurch überhaupt erst eine Großeltern-Enkel*innen-Beziehung möglich ist.
Auswirkungen auf das Studium und Leben betroffener junger Menschen
Von finanziellen Schwierigkeiten wird eher sachlich berichtet, offensichtlich wird die Zeit des Studiums generell als eine Phase finanzieller Begrenzung betrachtet. Mögliche Auswirkungen der Pflegeübernahme auf das Studium werden stets vor dem Hintergrund eigener Disziplin, Lernhaltung und Motivation reflektiert. Folglich wird nie allein die Pflege als Ursache für negative Auswirkungen auf das Studium gesehen. Trotz alledem ergeben sich in der Konsequenz Folgen aus der Pflegeübernahme: Pflegende Studierende haben weniger Zeit für die Gestaltung sozialer Kontakte, wenig Freizeit, die eigene Lebensgestaltung und -planung ist eingeschränkt beziehungsweise verzögert sich. Zudem ergeben sich auch psychische Belastungen wie Erschöpfung, Müdigkeit, Hektik oder Konzentrationsschwierigkeiten.
Pflegende und Sorgearbeit leistende Studierende müssen deshalb mehr gehört und auch unterstützt werden, damit die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Pflege in Zukunft tatsächlich für alle Betroffenen zu meistern ist.
Prof. Dr. Katharina Gröning, Wissenschaftliche Leitung des Projekts „Familiale Pflege unter den Bedingungen der G-DRG“ (German Diagnosis Related Groups) an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld