Ungleichheit lässt sich nicht von dem Coronavirus ausschalten
In der jetzigen Situation, wenn Aufgaben über das Internet verteilt und von zu Hause gelöst werden müssen, wenn die pädagogischen Unterstützungsmaßnahmen durch Lehrkräfte nur aus der Ferne möglich sind, werden Kinder aus bildungsfernen Haushalten stärker benachteiligt. Diese Kinder haben nicht den gleichen Zugang zu digitalen Endgeräten. Zum Einen gibt es Familien, die nur Smartphones besitzen. Eine sinnvolle und realistische Bearbeitung schulischer Aufgaben ist auf diesen kleinen Displays kaum möglich. Zum Anderen haben Kinder aus bildungsfernen Familien auch einen anderen Umgang mit den vorhandenen Geräten. Die letzte International Computer and Information Literacy Study (ICILS) hat darauf hingewiesen, dass Kinder aus Akademiker*innen-Haushalten effektiver und erfolgreicher mit diesen Geräten lernen als Kinder aus Nicht-Akademiker*innen-Haushalten. Das bedeutet, dass die ohnehin bestehende soziale Ungleichheit, um ein Vielfaches verstärkt wird.
Was passiert, wenn nach den Osterferien die Schule nicht für alle wieder los geht?
Bis Ostern sind diese Unterschiede vielleicht zu verkraften, denn bisher gelten die Angebote der Lehrer*innen als Zusatzangebote, die explizit nicht prüfungsrelevant sind. Bleibt die Situation bis zum Sommer bestehen, wird das wohl kaum mehr der Fall sein. Je länger der Unterrichtsausfall andauert, desto deutlicher werden die Unterschiede. Deshalb müssen jetzt Strukturen geschaffen werden, sodass Unterricht und Unterstützung für diejenigen, die sie am meisten brauchen, abgesichert sind. Wenn die Epidemie-Situation – wie vom Robert-Koch-Institut prognostiziert – bis zu 18 Monate fortbestehen kann, werden auch nach dem Sommer zumindest vereinzelt Schulen, Stufen oder zumindest Klassen bei einem Infektionsfall geschlossen. Dann stellen sich noch grundsätzlichere Fragen: Wie soll in solchen Fällen mit Prüfungen verfahren werden? Wie kann der Unterricht verlässlich fortgeführt werden, wenn es im neuen Schuljahr zu kurzzeitigen Schulschließungen kommt?
Es fehlen Unterstützungsangebote
Die Schüler*innen sollen keine Nachteile haben, betonte Ministerin Yvonne Gebauer auf einer Pressekonferenz. Ein starres Festhalten an den Zentralen Prüfung 10 (ZP10) und den Abiturprüfungen wird genau diese Nachteile für einzelne Schüler*innen produzieren. Bildungspolitische Rücksichtnahme sieht anders auch.
Es braucht nun mutige politische Lösungen, insbesondere wenn, die besondere Situation länger anhält. Lehrkräfte brauchen Unterstützung und die Schüler*innen müssen schnellen und unbürokratischen Zugang zu Geräten bekommen. Es darf nicht vom Förderverein der jeweiligen Schule abhängen, wie sich die Versorgung gestaltet. Bildung ist ein Menschenrecht, dass auch im Ausnahmezustand gültig ist und nicht von der sozialen Herkunft der Kinder, dem Geld des Fördervereins oder der Liquidität des Schulträgers abhängen darf. Hier muss das Land entschlossen handeln.
Weitsicht ist gefragt
Jetzt müssen die Weichen gestellt werden, damit ganze Schulen über die nötige Infrastruktur verfügen und mindestens 14 Tage lang Bildungs- und Unterstützungsangebote für ihre Schüler*innen anbieten können. Dazu bedarf es auch kurzfristiger Fortbildungen zu E-Learning, Bereitstellung verlässlicher Software durch Land und Kommunen, die den Datenschutzbestimmungen entspricht, und eines verlässlichen technischen Support. Gleichzeitig benötigen alle Schüler*innen, und hier gerade die Schüler*innen aus bildungsfernen Familien, Unterstützungsangebote wie Online-Tutorien oder eine zeitweilige Eins-zu-Eins- oder Kleingruppen-Betreuung. Die jetzige Situation ist für alle kaum zu überblicken, aber dabei dürfen nicht diejenigen übersehen werden, die auf Hilfestellungen angewiesen sind.
Kenneth Rösen, Experte für Schul- und Bildungspolitik der GEW NRW